Desserts sind ein kritischer Punkt im Menü, das was der Gast als letzten Eindruck mit nach Hause nimmt. Eine eigene handwerkliche Disziplin, die gerne mal stiefkindlich behandelt wird aber trotzdem leisten soll, was vorher vielleicht noch nicht passiert ist: überraschen, versöhnen, auffallen?
Umso bemerkenswerter ist es, wenn am Ende eines Menüs ein Teller steht, der nicht gefallen will – sondern etwas erzählt, dem Menü die Krone aufsetzt, eine geschmackliche oder thematische Klammer setzt. Der Mai hat mir vier solcher Desserts beschert: vier süße Handschriften, die am Ende des Menüs noch einmal sehr klar gezeigt haben, worum es ihnen eigentlich geht.


Essigbrätlein: Wenn Intellekt schmeckt
Gurke, Sauerampfer, Apfel, Eukalyptus, gebratene Schokolade
In meinen Notizen zu meinem Besuch im Essigbrätlein steht: „Ich bin erst bei Gang zwei, nach vier Amuse, und wenn das so bleibt, ist es sicher eines meiner faszinierendsten Menüs jemals. Sensorisch absolut irre. Völlig eigenständig.“
Es blieb so, bis zum Dessert: Gurke, Sauerampfer-Saft, Apfelschaum, Pulver von fermentierter Zitrone, Eukalyptus-Eis und gebratene Schokolade. Klingt verrückt – ist es auch irgendwie. Aber im Mund viel logischer, als man meinen würde. Ausbalanciert bis ins Detail, texturell wie aromatisch. Genau das richtige Maß Säure, Ätherik, herbe Süße, Frische.
Diese unglaublich fein abgestimmte Sensorik, der Intellekt dahinter, die intelligenten Kompositionen – und all das, ohne anstrengend zu schmecken oder sich gar mit großem Pomp anzukündigen. Etwas handwerklich so gut zu machen, so unglaublich schlau und dabei so unaufgeregt genussvoll auf den Teller zu bringen ist wirklich eine Kunst!
📍Essigbrätlein, Nürnberg
👨🏻🍳 Andree Köthe & Yves Ollech
🏆 2 Sterne Guide MICHELIN
etz: Pollen, Propolis, Prinzipien
BIENENSTOCK
Halbgefrorenes aus Pollen mit schwarzer Birne und Lippenblüten
mit Propolis-Eis und geräucherter Honig
Propolis und Honig von Peter Kunze
Für mehrere Recherchen für zwei große Geschichten für den Feinschmecker habe ich im Mai viel Zeit in Franken verbracht. Franken hat einige Leuchttürme der regionalen Kulinarik – gastronomisch und handwerklich sowieso. Mit dem Team vom etz durfte ich viel Zeit verbringen, um über ihren Bezug zu regionalen Erzeugern, vor allem Obstbauern, zu lernen. Mehr dazu wird es in meinem Monatsrückblick Spuren im Mai zu lesen geben.
Die Gelegenheit, einmal „in Ruhe“ im etz essen zu gehen, war mehr als willkommen – war ich bisher doch hauptsächlich auf Events dort zu Gast. Ein Abend, der eindrucksvoll gezeigt hat, dass im etz nicht nur auf höchstem Niveau gearbeitet, veredelt und gekocht wird – sondern hier vor allem auch fantastische Gastgeber am Werk sind. Dieses Lokal hat eine eigene Schaumweinkarte, das beste Brot der Welt, einen lockeren Ablauf und absolut individuellen Service. Für alle, die fürchten, es sei ihnen „zu konzeptionell“.
Viele Gänge des Menüs sind hängen geblieben. Ganz besonders sinnbildlich war für mich das Dessert:
Der „Bienenstock“ ist ein wahnsinnig intelligentes Bild im Jahreszyklus-Menü – mit der Biene und ihrer „Geschmackswelt“ als Symbol für all das, was das ganze Jahr über im etz auf den Teller kommt. Die große Klammer für alle Blüten, Früchte, für das Ökosystem, in dem auch Fisch, Fleisch, Gemüse, Getreide – und alles andere, das das etz (und wir alle) als Grundlage für die Versorgung brauchen. Ohne Bienen kein Wachstum, keine lokalen Produkte, keine Natur – kein Menü im etz.
📍etz, Nürnberg
👨🏻🍳 Felix Schneider & Team
🏆 2 Sterne Guide MICHELIN
AURA: Köstliche Zitrusforschung
ZITRUS & BEERE
Mieze-Schindler-Sorbet, Kumquat-Boden, Salz-Calamondin-Sorbet, Zitrus-Baiser, Limoncello-Sud, Salz-Zitronen-Creme, gehacktes Ingwergelee mit Pomeranzen-Marmelade, Strudelteig-Chip, Ingwer-Gel, marinierte Erdbeeren, Zuckerwatte, Cedro-Zabaione
Jetzt könnte man meinen: die Frau mit der Zitronenpflanze auf dem Arm mag Zitrus-Desserts sowieso. Aber: Allein dass es diese Dessert-Ausgabe gibt, ist ungewöhnlich – ich mag zwar Zitrus sehr, aber Desserts … nicht zwingend. Auch ins AURA in Wirsberg mit dem angeschlossenen Future Lab ANIMA hat es mich im Rahmen meiner Recherche verschlagen, und ich war sehr positiv begeistert vom Menü, das sich sichtlich weiter entwickelt, immer ausgefeilter, feiner, stimmiger wird. Durchweg war es überraschend, ästhetisch, gut abgestimmt – bis zum Dessert, das auf seinem Beizettelchen folgendes sagt:
„Zitrus ist nicht gleich Zitrus. Das zeigen Sorten wie Landsknechthose, Chinotto oder Buddhas Hand aus der Wilhelma in Stuttgart oder der Orangerie Bamberg. Jede bringt ein eigenes Aroma, eigene Form und Geschichte mit – mal mild, mal bitter, mal voller ätherischer Öle. Diese Vielfalt verleiht unseren Menüs eine Tiefe, die man nicht erklären kann. Man muss sie schmecken.“
Das hat man geschmeckt.
Der Küchenchef im AURA, Ferdinand Kretz, war übrigens zuvor Sous-Chef im Tantris. Dort ist auch mein vierter Teller des Monats zu Hause.
📍AURA im Posthotel Alexander Herrmann, Wirsberg
👨🏻🍳 Tobias Bätz (Posthotel Alexander Herrmann) & Ferdinand Kretz (Küchenchef AURA)
🏆 2 Sterne Guide MICHELIN
Tantris DNA: Eine Sauciere Großzügigkeit
Profiterole, Muscovado-Eis, Schokoladensauce
Der Teller des Monats aus dem Tantris DNA ist eigentlich eine Sauciere. Eine große Sauciere, gefüllt mit der köstlichsten Schokoladensauce von Chef Pâtissier Maxime Rebmann.
Die Großzügigkeit, in der so viel Gastfreundschaft – und Gastfreude – liegt. Die Opulenz, die zur DNA der französischen Küche gehört. Das hausgemachte, längliche Profiterole als Hülle für das perfekt temperierte Muscovado-Eis.
Das Tantris DNA transportiert so viel Emotion wie hundert andere „Fine Dining“-Lokale zusammen nicht. Sicherlich ist hier auch vom Gast das gewisse Gefühl, das Verständnis für das Lustvolle am Essen gefragt. Benjamin Chmura begeistert mich hier immer wieder mit seiner Küche, die expressiv ist – im positiven Sinn: viel Zitrus, Kräuter, charakterstarke Saucen (die am Tisch bleiben!), gegrillte Kalbszunge, bretonischer Fisch in traumhafter Qualität.
Hier wird gekocht – mit Herz und Handwerk. Das schmeckt und spürt man. Und genau das transportiert zum Abschluss des Abends auch die silberne Sauciere: perfekt temperierte Schokoladensauce, in der der Löffel noch ein paar Mal verschwinden darf.
📍Tantris DNA, München
👨🏻🍳 Benjamin Chmura, Maxime Rebmann (Pâtisserie)
🏆 1 Stern Guide MICHELIN