Vilnius schmeckt anders: Zwischen Einlegen und Entwerfen
Vier Sterne-Restaurants, jüdische Familienküche, Karaïten-Teigtaschen – und eine Stadt, die Erinnerung auf Tellern konserviert.
Warum Vilnius? Litauen hatte ich lange nicht auf meiner kulinarischen Karte. Dann kam diese Reise – und mit ihr eine Stadt, die nicht laut wird, aber viel erzählt. Eine Küche, die auf Erinnerung setzt statt auf Effekte. Und Restaurants, die zeigen, wie spannend es sein kann, wenn Herkunft nicht nur zitiert, sondern gelebt wird.
Dieser Text ist kein klassischer Reisebericht, sondern eine Annäherung – an eine Stadt zwischen Eingelegtem und Entworfenem, zwischen tiefer Geschichte und überraschender Gegenwart.



Marktgeruch & Fermentiertes
Halės Turgus, vormittags. Es riecht nach Knoblauch, Dill, Essig. An den Ständen stehen Gläser mit eingelegten Pilzen, Rote Bete, Tomaten, Gurken. Wer in Vilnius die Küche verstehen will, beginnt hier: beim Konservierten, beim Fermentierten. Was hier im Glas liegt, ist nicht Nostalgie, sondern Vorrat an Bedeutung. Der Markt ist mehr als eine Einkaufsmöglichkeit – er ist ein Archiv. Ein Ort, an dem Produkte nicht nur verkauft, sondern Geschichten bewahrt werden. Ein Ort, an dem eingelegte Knoblauchzehen so erzählfreudig sein können wie eine Speisekarte.



Vilnius: eine Stadt aus Schichten
Die Hauptstadt Litauens ist ein Ort der Überlagerungen. Polnisch, jüdisch, litauisch, sowjetisch. Bäuerlich, städtisch, besetzt, europäisch. Diese Vielschichtigkeit zeigt sich auch auf den Tellern: in Gerichten, die improvisieren mussten, auskommen konnten, bewahren wollten. Und in einer jungen Szene, die sich auf dieses Erbe bezieht, ohne es zu musealisieren.
Hier wird nicht kopiert, sondern transformiert. Vilnius ist nicht laut, nicht grell. Aber es hat Haltung. Und eine kulinarische Sprache, die ohne Übertreibung klar ist. Zwischen eingelegtem Gemüse und architektonisch gedachten Menüs zeigt Vilnius, wie Erinnerung und Gegenwart koexistieren können. Der Michelin Guide veröffentlichte Mitte 2024 zum ersten Mal in Litauen.
Stationen meiner Reise – kulinarisch erzählt
Vier Küchen – vier Handschriften:
Džiaugsmas:
Unser erster Abend. Das Restaurant heißt „Freude“ – eine, die sich auch auf dem Teller finden sollte. Naturweine, auf dem Teller Steinbutt und lokale Pilze. Chef Martynas Praškevičius legt Wert auf ganzheitliche Verarbeitung: vom Aal als Hauptdarsteller bis zur Sauce. Das Dessert: Steinpilzeis. Der Stil: reduziert, akribisch, fokussiert. Die Atmosphäre: clean und modern.


Nineteen18:
Ein eleganter moderner Raum, viel Glas, hohe Weinschränke, offener Küchentresen. Ein Tasting-Menü, das die litauische Herkunftsküche zitiert. Dänisches Rind, fermentiertes Gemüse, Kräuter, Ameisen! Der Stil: konzeptionell, mit sichtbarer Idee. Ein Ort, an dem vieles stimmig und sehr international wirkt. Und dann: Ein Moonshine mit Plüsch-Einhorn. Auch den Humor der Litauer lernt man hier kennen.



Demoloftas:
Zwei Konzepte, ein Ort. Mittags Lunchmenü mit Vorspeisen und Hauptgericht, abends gehobenes Fine Dining mit künstlerischer Handschrift. Bei uns wurde es: der Mittag im lichtdurchfluteten Lokal zwischen Pflanzen, Winzerchampagner und locker-hipper Atmosphäre. Forelle, Wirsing, Cashewcreme, Haselnuss. Für den nächsten Vilnius-Besuch auf dem Programm: abends wiederkommen.



Pas Mus:
Das beeindruckendste, konzentrierteste gastronomische Erlebnis dieser Reise. Vielleicht eines der besten des letzten Jahres.
Eine Chefin. Vier Köche. Zwei Sommeliers. Alles wirkt leicht, aber nichts ist zufällig. Vita, die Köchin und einst Architektin, nennt es einfach "unser Ort". "Pas Mus". Hier wird gesammelt, eingelegt, fermentiert. Aber auch geöffnet: für Jakobsmuscheln aus Japan, für Kaviar, für Einflüsse, die nicht prahlen und doch so eindrücklich sind.
"We don't escalate too much", sagt Vita. Und man glaubt ihr jedes Wort.
Das Publikum im Pas Mus: interessiert, aber ruhig. Kein Posen. Kein Hipstertum. Internationale Klasse ohne Attitüde. Ein Ort, der selbst die noch erstaunen kann, die viel gesehen und gegessen haben.
Der Teller, der bleibt: Jakobsmuschel auf knuspriger Kartoffel"pizza" mit Tamari. Salzig und klar. Eine Komposition, die nicht gefällig sein will. Sondern präzise.
Auch im Menü: Tatar mit Dashi und gereifter Butter auf karamellisiertem Brioche. Gereifte Ente mit fermentierten Stachelbeeren und Bärlauchknospen. Tomatenblätter-Sorbet mit sibirischem Kaviar. Weiße Schokolade, Haselnuss, Sauerkirsche. Das alles hätte auch in Paris, Kopenhagen oder Tokio serviert werden können. Aber es ist hier. Und es bleibt.









Kulinarische Tiefe – aus Geschichte und Erinnerung
Baleboste:
Baleboste heißt so viel wie die Frau des Hauses – und genau so fühlt es sich an. Ein kleines Restaurant direkt neben der Markthalle, in dem Gerichte serviert werden, die leise von Erinnerung erzählen. Von jüdischem Leben, von Familienküche, von einem Alltag, der verschwunden ist. Hier geht es nicht um Wiederbelebung, sondern um Präsenz. Um das, was bleibt. Die Bagels sind handgerollt, das Frikassee mit Herz und Leber gekocht, die Teiglach in Honigsirup getränkt. Eine Küche, die nichts beweisen muss – aber viel erzählt.






Trakai / Kibinai:
Wer nach Trakai fährt, kommt wegen der Burg. Aber bleibt wegen der Kibinai. Die halbmondförmigen Teigtaschen sind das kulinarische Erbe der Karäer – einer turksprachigen Minderheit, die im 14. Jahrhundert von Großfürst Vytautas aus der Krim nach Litauen geholt wurde. Ihre Religion, der Karaïsmus, basiert auf dem Alten Testament – jedoch ohne Kommentare oder Auslegungen anderer. Die erste Synagoge (Kenesa) wurde im 15. Jahrhundert errichtet, mehrfach zerstört und später rekonstruiert.
Auch kulinarisch hat die Minderheit ihre Identität bewahrt. Die Karaim-Küche ist geprägt von Fleisch- und Pastetengerichten. Die bekannteste Spezialität: Kybyn (pl. Kybynlar) – ein im Ofen gebackener, halbmondförmiger Teigfladen mit Lamm- oder Rindfleisch. Getrunken wird dazu traditionell Krupnik, ein gewürzter, goldfarbener Schnaps auf Basis orientalischer Aromen wie Muskat und Nelke.
In einem kleinen Lokal in Trakai haben wir selbst Kibinai geformt – und viel über Geschichte gelernt, die sich nicht in Büchern, sondern in Gerichten fortschreibt.









Was bleibt neben der Erinnerung?
Vilnius konserviert nicht nur Gemüse. Sondern Erinnerung. Atmosphäre. Haltung. Küche ist hier kein Erlebnisangebot, sondern ein Ausdruck kultureller Kontinuität. Und das bedeutet nicht Stillstand, sondern eine besondere Form von Bewegung: eine, die nach innen geht.
Und wer verstehen will, welche Prägungen Litauens kollektives Gedächtnis ausmachen, dem sei ein Besuch im Museum der Okkupationen und Freiheitskämpfe empfohlen: das ehemalige KGB-Gefängnis mitten im Zentrum von Vilnius ist nicht nur eindrücklich kuratiert, sondern macht sichtbar, wie stark dieses Land für seine Eigenständigkeit kämpfen musste – und wie viel davon in seiner Kultur, Sprache und Kulinarik bis heute nachhallt. Das Gebäude ist zugleich Gedenkstätte, Archiv und Zeitkapsel.




Auf dem Kathedralenplatz gibt es eine Kachel: Stebuklas. Wer sich dort drei Mal dreht, darf sich etwas wünschen.
Ich habe mich gedreht – und bin in einer Stadt gelandet, in der eingelegte Gurken und Jakobsmuscheln koexistieren. In der Geschmack nicht Trend ist, sondern Haltung. Im Koffer: etwas Saures. Im Kopf: etwas sehr Warmes.
Vielleicht ist das die größte Entdeckung in Vilnius: Dass Geschmack im Kopf bleiben und etwas bewirken kann, auch wenn er am Gaumen vergeht.
Besuchte Orte in Vilnius & Umgebung
Fine Dining Restaurants mit Michelin Stern:
Džiaugsmas (Vilniaus g. 28, Vilnius)
Nineteen18 (Dominikonų g. 11, Vilnius)
Demoloftas (T. Ševčenkos g. 16A, Vilnius)
Pas Mus (Pilies g. 28, Vilnius)
Weitere kulinarische Orte:
Baleboste (Pylimo g. 58, direkt an der Markthalle)
Lokys (Stiklių g. 8, Vilnius) – traditionell
Desertu Klubas – Bandelės-Workshop mit Asta Petrušienė
Kybynlar, Trakai – Kibinai-Workshop
Bars & Cafés:
Nick & Nora – Cocktailbar (Stiklių g. 8, Vilnius)
Kitchen Coffee Vilnius – Frühstück, Specialty Coffee (Vokiečių g. 17A, Vilnius)
Eskedar Coffee Bar (Universiteto g. 10, Vilnius) – Specialty Coffee direkt neben dem Hotel und Pas Mus
Märkte & Kultur:
Halės Turgus (Pylimo g. 58, Vilnius)
Trakai – Burg, Karaïten-Kultur und Küche
Stebuklas-Kachel am Kathedralenplatz – Wunschort
Historischer Kontext:
Museum der Okkupationen und Freiheitskämpfe / Ehemaliges KGB-Gebäude (Auku g. 2A, Vilnius)
Unterkunft:
Hotel Narutis (Pilies g. 24, Vilnius) – restauriertes Patrizierhaus aus dem 16. Jh. in der Altstadt
Titelbild generiert mit DALL·E, einem KI-Bildmodell von OpenAI.
Das macht mir Vorfreude auf Ende Mai!
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