Dass ich die Klassik auf dem Teller liebe, lässt sich spätestens seit meinem Kunstprojekt “culinary timepieces - a tribute to classic cuisine” nicht mehr verbergen. Klassische Küche prägt, wie wir heute gerne essen – egal ob wir im etz oder im Waldhotel Sonnora, im AURA oder im Tantris sitzen. Escoffier und Co. hatten überall ihre Finger im Spiel, auch bei den Ideen zu meinen Tellern des Monats im Juni, die zeigen, wie leichtfüßig, sommerlich, herrlich fein und unkompliziert Eiweißinseln schwimmen und Herrenschnitten im Schwabinger Innenhof serviert werden können.


Atable: Ein französischer Mittag
Île flottante: Pochierter Eischnee mit Vanillesauce und Mandelkrokant
Pfingsten in der Pfalz und hier mit Freunden zum Lunch, der wird im Atable nämlich auch am Wochenende zelebriert. Ein herrlicher Wohlfühlort mit tollen, nahbaren Gastgebern. Und Sybille hat nebenher bemerkt auch ihren Weinkeller fantastisch im Griff.
Das Dessert: eine Île flottante – fantastisch in der Konsistenz, zart und weich wie eine Wolke. Die Vanillesauce herrlich (und hieran wird nicht gespart!), der Mandelkrokant knusprig genug, aber nicht zu hart – perfekt.
Die schwimmende Insel gehört zu den festen Größen der französischen Dessertküche. Erste Rezepturen finden sich bereits im 18. Jahrhundert, wobei sich die Bezeichnung regional mit dem verwandten „œufs à la neige“ überschneidet. Technisch handelt es sich um pochierten Eischnee, der vorsichtig in Milch gegart und in Crème anglaise serviert wird. Der Krokant als struktureller Kontrast ist eine spätere Ergänzung – typisch für klassische Bistro-Desserts, bei denen es um Textur und Temperatur geht, nicht um Dekor. In ihrer Einfachheit und technischen Präzision steht die Île flottante sinnbildlich für eine Küche, die nicht nur optisch gefallen will – sondern Handwerk zeigt.
📍Atable im Amtshaus, Freinsheim
👨🏻🍳 Swen Bultmann
Sparkling Bistro: Luxuriöse Klarheit
Herrenschnitte
Ich liebe Jürgen Wolfsgrubers Spagat aus österreichischer Lässigkeit und französischer Klassik-Referenz auf dem Teller – mit großem Selbstverständnis, viel Purismus und einer Eleganz, die durch Einfachheit und nicht durch Verkünstelung entsteht. Mit der Herrenschnitte zeigt er seine runde Idee der Luxus-Verführung mit Substanz und köstlich abgeschmecktem Tatar. Seine “Bistro-Klassiker” gibt es jetzt übrigens endlich wieder – neben, zu oder auch statt seinem Menü.
Das Gericht selbst zitiert gleich mehrere klassische Vorbilder: das französische tartare de bœuf, erstmals im späten 19. Jahrhundert dokumentiert, und die sogenannten „Herrenschnitte“, wie sie in gehobenen Clubs des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa serviert wurden – kalt, puristisch, oft mit Toast oder Brioche – hier mit Rösti. Der Kaviar als luxuriöse Spitze ist historisch ebenfalls kein Zufall: Schon im 19. Jahrhundert galt Störrogen in Frankreich und Russland als delikate Beigabe zu Rind, Ei oder Crème. Wolfsgruber kombiniert diese Elemente mit der Selbstverständlichkeit eines Gastronomen, der keine Referenz betonen muss – sie ist einfach da.
📍Sparkling Bistro, München
👨🏻🍳 Jürgen Wolfsgruber
🏆 1 Stern Guide MICHELIN
Das Obers: Fisch, Sud und Garten
Loup de mer mit Bouillabaisse-Sud, Fenchel und Tomate
Dass Jürgen Wolfsgruber mit Lukas Gietl einen 6er im Lotto gezogen hat, schmeckt man mit jedem Bissen – in Lukas täglich wechselndem Menü oder wie hier à la carte. Der Loup de mer in grandioser Qualität, perfekt gebraten, der Bouillabaisse-Sud leicht, mediterran, genug Safran und Säure, nicht zu dicht für einen warmen Sommerabend in einem der schönsten Gast-Gärtchen Münchens.
Der Sud spielt auf eines der bekanntesten Gerichte der südfranzösischen Fischküche an: die Bouillabaisse. Ursprünglich eine Suppe der Hafenfischer in Marseille, in der aussortierter Fang mit Knoblauch, Fenchel, Tomate und Safran gekocht wurde. Die Idee, diesen Sud reduziert als Aromaträger für ein Edelfilet wie den Wolfsbarsch (loup de mer) zu verwenden, ist eine Umkehr der klassischen Rollenverteilung. Fenchel, Tomate, Safran – die aromatische Dreierkombination bleibt dabei unverkennbar südlich. Und sie funktioniert, auch jenseits der Mittelmeerküste, unter Bäumen im Münchner Gern.
Übrigens: im Obers hängen einige culinary timepieces als limitierte Kunstdrucke zum Ansehen - und die Bouillabaisse gibt es als Motiv hier auf der Website des Projekts zu sehen und zu bestellen:
Motiv 1: Bouillabaisse 1923 | Motiv 2: Bouillabaisse. Mise en place. 1923
📍Das Obers, München
👨🏻🍳 Lukas Gietl


Mokum: Bistro ohne Chichi
Paté en croûte
Das frisch eröffnete Mokum hat sich jetzt schon bestens etabliert. Die Paté en croûte, die ja aktuell durchaus in Mode ist, ist hier handwerklich ausgefeilt, aber angenehm unaufgeregt. Hier nimmt man es ernst mit der Bistro-Kultur und macht kein Schaustück daraus – Geschmack, Weinbegleitung und Service sind auch on point.
Die Paté en croûte hat eine lange Geschichte: Ursprünglich diente der Teigmantel vor allem als Hülle zur Konservierung – bereits im Mittelalter wurde Fleisch darin haltbar gemacht und transportfähig verpackt. Erst später wurde der Teig selbst verfeinert und Teil des Gerichts. Ab der Renaissance etablierte sich die Pastetenform als Symbol für königliche Tafeln und regionale Metzgerkunst – in Lyon, im Burgund, in Bresse. Heute gilt die Paté en croûte als Prüfstein klassischer französischer Charcuterie. Seit 2009 gibt es sogar eine eigene Weltmeisterschaft für diese Form. Im Mokum wirkt das alles ganz selbstverständlich – kein historisches Zitat, sondern gelebte Bistrokultur.
📍Mokum, München
👨🏻🍳 Florian Rottensteiner, Tim Meier

bidlabu: Bistro-Flair in Frankfurt
Pulpo, Fenchel, Tomate & Safran
In Frankfurt war ich rund um die Michelin-Gala auch endlich mal zum Abendessen. Das bidlabu hat das Zeug zum Lieblingsplatz – sitzt man doch in einem kleinen Gässchen herrlich unkompliziert mit Bistro-Flair und genießt aus der frei kombinierbaren Karte die herrlich leicht, geschmackvoll und klar komponierten Gerichte, die modern und filigran, aber trotzdem unverkopft daherkommen. Wie der sommerliche Pulpo-Salat mit Tomate.
Pulpo mit Fenchel, Tomate und Safran – das liest sich wie ein archetypisches Gericht des Mittelmeerraums – im Prinzip auch eine Bouillabaisse Referenz. In Neapel findet sich mit dem Polpo alla Luciana ein historisches Vorbild: seit dem 17. Jahrhundert wird dort Oktopus mit Tomate, Olivenöl und Gewürzen geschmort, ursprünglich im Fischerviertel Santa Lucia. Auch Fenchel und Safran sind klassische Begleiter – ausbalanciert zwischen ätherischer Würze, Süße und Bitterkeit.
Im bidlabu wird aus dieser Tradition ein leichter, kühler Teller, der mediterrane Assoziationen weckt, ohne sie auszustellen. Das Gericht bleibt nah am Produkt – eine sommerliche Skizze, bei der jeder Strich sitzt.
📍bidlabu, Frankfurt
👨🏻🍳 André Rickert
🏆 1 Stern Guide MICHELIN
Dass die Gerichte hier meine Teller des Monats werden, weiß ich logischerweise erst danach. Insofern gibt es hier auch nicht immer schöne Fotos zum Gericht. Die gibt es dafür im Auftrag - wer einen Blick in mein Foto-Portfolio für die Gastronomie werfen mag, ist hier herzlich eingeladen.
Einen Monat zurück:
Teller des Monats Mai
Desserts sind ein kritischer Punkt im Menü, das was der Gast als letzten Eindruck mit nach Hause nimmt. Eine eigene handwerkliche Disziplin, die gerne mal stiefkindlich behandelt wird aber trotzdem leisten soll, was vorher vielleicht noch nicht passiert ist: überraschen, versöhnen, auffallen?